Sind Lineaturen hinderlich (?): Mythos und Wirklichkeit

1. Ausgangslage

Die vom Grundschulverband ausgegebene Richtlinie zur Verwendung von Lineaturen sieht einen Verzicht auf dreigliedrige Lineaturen vor:

„Ein Hemmnis für den flüssigen Bewegungsablauf sind die herkömmlichen Anfangslineaturen mit den drei Bändern, weil die Schreibbewegung an den Linien verzögert wird. Auch sind Bewegungsabäufe und Schriftgröße individuell. Deshalb sollte auf die traditionelle Lineatur 1 und 2 verzichtet werden. Die Kinder schreiben entweder auf Blanko-Blättern, auf eine Grundlinie oder mit Hilfe von Lineaturen mit Schreibräumen: Das Mittelband ist dabei vorgegeben, zur Markierung der Proportionen der Ober- und Unterlängen ist links und rechts am Rand die Größenordnung durch einen Balken markiert, ersatzweise kann dies auch das bekannte Häuschen mit Dach und Keller sein (s. u. bei Material). ” (vgl. Bartnitzky/Hecker (September 2014) Mit der Grundschrift zur individuellen Handschrift Quellennachweis: http://www.die-grundschrift.de/konzept/warum-und-wie/)

Zur inhaltlichen Rechtfertigung des Verzichts auf eine dreigliedrige Lineatur wird von Grundschriftbefürwortern gerne die Studie von Quenzel aus dem Jahr 1994 eingesetzt. Die im Zusammenhang mit dieser Studie oft getätigten Überziehungen bei der Ergebnisinterpretation (z.B. durch Quenzel/Mai (2000) werden bei der Darstellung der Studie angeführt. Hier der link zur ausführlichen Studienbeschreibung auf dieser Homepage).

Am Beispiel der Aussagen von Frau Mahrhofer-Bernt (früher nur Mahrhofer) werden weitere Überziehungen bei der Ergebnisinterpretation dargestellt. Zur besseren Einordnung werden an dieser Stelle nochmals die von Quenzel durchgeführten Untersuchungen angeführt: Mahrhofer (2004) verortet in ihrer Dissertation die Aussagekraft der Studie von Quenzel zu Lineaturen einigermaßen korrekt, wenn sie schreibt:

„ Eine Untersuchung, die im weitesten Sinne zur Lineaturgestaltung genannt werden kann.” (vgl. ebd. S. 134; kursive Hervorhebung im Original)

Kommentar: Im »weitesten Sinne« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Studie von Quenzel sich eben nicht unmittelbar mit der Wirkung von Lineaturen beschäftigt, aber zumindest eine gewisse inhaltliche Nähe behauptet werden kann. Dies kann angesichts der Untersuchungsanordnung (siehe oben) als höchst angemessen angesehen werden.

2. Wie Mahrhofer-Bernt die Untersuchungsergebnisse von Quenzel „interpretiert”

Die ursprünglich korrekte Verortung der Studie von Quenzel („im weitesten Sinne zur Lineaturgestaltung”) hält Mahrhofer 2004 in Ihrer Dissertation zwei Seiten später nicht davon ab, folgende Zusammenfassung zu Effekten von Schreiblineaturen zu veröffentlichen:

„Bei der Überprüfung der Effekte von Lineaturen (Quenzel , 1994, Noack & Körndle 1999) und die [sic!] Instruktion, diese genau einzuhalten (Quenzel 1994), zeigte sich darüber hinaus, dass sowohl Erwachsene als auch Kinder unter diesen Bedingungen unflüssige und kontrollierte Schreibbewegungen ausführen. Gleichzeitig waren die von Quenzel untersuchten Kinder der ersten und vierten Klasse in der Lage, Schreibgrößenvorgaben am Beginn einer Schreibzeile auch ohne weitere Hilfslinien einzuhalten.” (Mahrhofer, 2004: 136; Hervorhebung in eckiger Klammer und Hervorhebung durch den Verfasser)

Kommentar: Im obigen Zitat wird ersichtlich, dass Mahrhofer - obwohl sie eingangs konzediert, dass die Untersuchung von Quenzel nur »im weitesten Sinne der Lineaturgestaltung« zugerechnet werden kann - zusammenfassend unzulässig verallgemeinert, wenn sie »Effekte von Lineaturen« anführt. Weiterhin kann die Formulierung »Schreibgrößenvorgaben am Beginn einer Schreibzeile auch ohne weitere Hilfslinien einhalten«, so verstanden werden, dass ganze Zeilen geschrieben worden wären. Dies fand in der Untersuchung von Quenzel nicht statt, weswegen Mahrhofer - die oben vorgeschlagene Lesart vorausgesetzt - hier eine unwahre Aussage tätigt.


Nun handelt es sich bei der problematischen Interpretation von Mahrhofer-Bernt nicht um ein singuläres Ereignis, sondern sie führt ähnlich gelagerte Argumentationsführungen auch an anderer Stelle an. So wiederholt sie das obige Zitat in Mahrhofer-Bernt (2011a) auf Seite 40.

An anderer Stelle findet sich eine inhaltlich Ähnlich gelagerte Formulierung durch Mahrhofer-Bernt:

„In der Lineatur bedeutet die Eingrenzung von Mittelband, Ober- und Unterlängen und die Vorgabe zur genauen Einhaltung weniger eine Orientierung des Schreibraumes. Vielmehr behindert es die Ausführung flüssiger Schreibbewegungen. (Quenzel 1994, 2000)” (zit. nach Mahrhofer-Bernt, 2011b: 143)

Kommentar: Im obigen Zitat findet sich im ersten Satz eine letztlich nicht aufschlüsselbare Verschränkung von zwei behaupteten Wirkfaktoren: a) dreizeilige Lineaturen und b) die genaue Einhaltung. Im zweiten Satz schafft das Personalpronomen »es« eine Verbindung zwischen den beiden Wirkfaktoren und der Untersuchung von Quenzel, in der Derartiges eben nicht im eigentlichen Sinn untersucht wurde. Ein weiteres Mal konstruiert Mahrhofer-Bernt gegenüber der Leserschaft den Anschein von wissenschaftlicher Fundiertheit.


Und auch zeitlich vorgelagert findet sich unter Koautorenschaft von Professorin A. Speck-Hamdan bereits im Jahr 2001 folgende Darstellung:

„Wie in dem Artikel von Irmina Quenzel und Norbert Mai (S. 35-38) ausführlich dargestellt wird, weisen Untersuchungen zur Lineatur nach, dass die Vorgabe der derzeitigen Lineatur mit Mittelband, Ober- und Unterlänge und die Anweisung, diese Begrenzungslinie genau einzuhalten, eine flüssige Schreibweise sowohl bei Kindern als auch bei routiniert schreibenden Erwachsenen behindert. Zugleich zeigte sich auch, dass Kinder sehr wohl in der Lage sind, vorgegebene Größen auch ohne detaillierte Lineatur einzuhalten.” (zit n. Mahrhofer / Speck-Hamdan, 2001: 40f. Hervorhebungen durch den Verfasser. Die Autorinnen beziehen sich bei der Literaturangabe auf einen Artikel von Quenzel / Mai in der gleichen Zeitschriftenausgabe.)

Kommentar: Im obigen Zitat suggeriert der Plural »Untersuchungen«, dass es sich gar um mehrere Studien handeln könnte. Ggf. wird damit die angeführte Arbeit von Legrün (1923) eingeschlossen oder die von Mai zumeist an neurologischen Rehapatienten gewonnenen Einsichten über die Wiederaneigenbarkeit von beeinträchtigten Schreibbewegungen. Interessant in diesem Zusammenhang erscheint auch, dass auch Professorin Speck-Hamdan nicht in der Lage ist, Untersuchungsergebnisse von Quenzel dem Studienoriginal entsprechend und ohne verzerrende Überziehung aufzufassen. Anscheinend übernimmt man unkritisch die von Quenzel / Mai (2000) bereits getätigten weitreichenden interpretatorischen Überziehungen (vergleiche hierzu Kapitel Quenzel/Mai 2000, link).

3. Kontrastierende Erfahrungen zur Nützlichkeit von dreigliedrigen Lineaturen

Dietrich/Metz (2016) beschreiben ihre Erfahrungen mit der Grundschrift an der Herderschule in Esslingen, welche am baden-württembergischen Erprobungsversuch der Grundschrift in den Jahren 2011-2015 teilnahm. Die Autorinnen wichen bei der Schriftvermittlung in Klasse 1 von der eigentlich vom Grundschulverband ausgegebenen Empfehlung ab und begründeten dies wie folgt:

„Bei Buchstaben mit Über- oder Unterlängen reichte die Grundlinie nicht aus, den Schülern in Klasse 1 eine ungefähre Vorstellung zu vermitteln, wie groß der Raum über oder unter der Linie sein darf bzw. soll. Deshalb haben wir die dreigliedrig farblich unterstützte Lineatur herangezogen und diese zumindest in den ritualisierten Einführungsstunden in Klasse 1 vorgegeben. Ab Klasse 2 wurden Hefte mit verschiedener Lineatur angeboten.
Auch in der Unterscheidung formgleicher oder -ähnlicher Groß- und Kleinbuchstaben (S,s, K,k, C,c ...) bietet die dreigliedrige Lineatur den Schülern Orientierung beim differenzierten Anwenden der Größenproportionen.” (zit. ebd. S. 211)

Kommentar: Die im Zitat verwendete Formulierung "reicht nicht aus" deutet auf ernstzunehmende Schwierigkeiten der Erstklässler hin, denen möglicherweise durch entsprechende Abänderungen während des Erprobungsversuches begegnet werden musste.

4. Fazit

Die oben angeführte Zitatenserie macht deutlich, dass die Aussagen der prominenten Grundschriftbefürworterin Frau Mahrhofer-Bernt hinsichtlich der Sinnhaftigkeit und Wirkung von Schreiblineaturen unter Rückbezug auf die Studie von Quenzel (1994) inhaltlich weit überzogen und damit wissenschaftlich nicht gedeckt sind. Frau Mahrhofer-Bernt (siehe oben Zitatstelle unter Koautorenschaft von A. Speck-Hamdan) neigt bereits im Jahr 2001 zur inhaltlichen Ergebnisüberziehung und setzt diese auch bis ins Jahr 2011 fort. Dies lässt darauf schließen, dass es der Autorin daran gelegen ist, ihre private Überzeugung zum Thema Lineaturen vermeintlich wissenschaftlich verbrämt an Dritte weiterzureichen. Korrekte Wissenschaft und verantwortungsvolle Informationsvermittlung betreibt Frau Mahrhofer-Bernt zum oben angeführten Themenbereich nicht. Die obigen Ausführungen legen dar, dass Mahrhofer-Bernt in eigener Grundschriftmission schon seit 10 Jahren am Mythos von der empirisch belegten Überflüssigkeit von Lineaturen strickt, indem sie ihre nicht haltbaren Studieninterpretationen bezogen auf die Diplomarbeit von Quenzel (1994) wiederholt.
Die die Gültigkeit und Verlässlichkeit der Aussagen von Mahrhofer-Bernt werden auch durch die angeführten Erfahrungen von Dietrich/Metz (2016) zur sinnvollen und den Schreiberwerb unterstützenden Verwendung von dreigliedrigen Lineaturen in Frage gestellt. Somit wird es zunehmend wahrscheinlich, dass die beschriebenen interpretatorischen Überziehungen von Studieninhalten wohl hauptsächlich zur rhetorischen Abgrenzung und Hervorhebung des Grundschriftkonzeptes getätigt wurden. Der lebensweltlichen Realität von Schreibanfängern und deren Bedürfnissen scheinen die "didaktischen Glaubenbekenntnisse" von Grundschriftbefürwortern zur vermeintlichen Unsinnigkeit von dreigliedrigen Linaturen wohl eher nicht gerecht zu werden.

Literatur:

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