Die Studie von Irmina Quenzel

Als empirischer Beleg für den hinderlichen Charakter von Lineaturen beim Schreibenlernen wird seitens von Grundschriftbefürwortern wiederholt auf die Studie von Quenzel verwiesen. Im Rahmen ihrer Diplomarbeit aus dem Jahr 1994 (Titel: Kinematische Analysen einfacher Schreibbewegungen bei Kindern und Erwachsenen, Unveröffentlichte Diplomarbeit, Fachbereich Psychologie, Frankfurt a.M.) führte Irmina Quenzel Untersuchungen mit insgesamt 24 Untersuchungspersonen durch. Die Darstellung der ursprünglichen Ergebnisse erfolgt durch den Verfasser anhand eines neu aufgelegten Artikels von Quenzel/Mai aus dem Jahr 2000.

Titel und Literaturnachweis

Quenzel, Irmina / Mai, Norbert (2000): Kinematische Analyse von Schreibbewegungen im Erstschreibunterricht. In: Unterrichtswissenschaft, Zeitschrift f. Lernforschung, 28, Heft 4, S. 290-303

Untersuchungsdesign/Methoden

Quenzel untersuchte insgesamt 24 Personen. Hierunter fanden sich 6 Mädchen und 8 Jungen zu Beginn der ersten Grundschulklasse und 10 Studenten (5 Frauen und 5 Männer). In der Untersuchung sollten Schreibanfängern mit routinierten Schreibern hinsichtlich des Automatisierungsgrades bei einfachen Schreibbewegungen verglichen werden. Gleichzeitig sollte die abgeforderte Einhaltung von Begrenzungslinien auf den Schreibfluss untersucht werden. Weiterhin sollte untersucht werden, ob Schreibanfänger in der Lage sind, Schreibfiguren ohne waagrechte Hilfslinien bezogen auf eine Größvorgabe ausreichend zu skalieren. Die Untersuchungsdauer bei den Kindern betrug 20-30 Minuten, die Untersuchungsdauer bei den Erwachsenen 15-20 Minuten. In der Testinstruktion an die Untersuchungspersonen wurde die Ausführung von flüssigen Schreibbewegungen als Untersuchungsziel betont. Die Messungen erfolgten mittels der von Mai und Marquardt veröffentlichten Software zur Analyse von Schreibbewegungen. An die Untersuchungspersonen wurden folgende Aufgaben gestellt:

Ergebnisse

Automatisierungsgrad isolierter Bewegungen

Sämtliche Erwachsene konnten alle abgeforderten isolierten Bewegungen (isolierte Abstriche, Ovale, Doppelschleifen) automatisiert durchführen. 8 von 14 Kindern konnten isolierte Striche noch im Toleranzbereich für isolierte Bewegungen ausführen. 3 von 14 Kindern konnten Ovale in automatisierter Form ausführen und keines der Kinder konnte Doppelschleifen automatisiert ausführen.

Automatisierungsgrad bei genauer Beachtung von Begrenzungslinie

Kinder wie auch erwachsene Untersuchungspersonen zeigten bei der genauen Ausführung von isolierten senkrechten Abstrichen zwischen zwei horizontalen Begrenzungslinien keine automatisierten Bewegungsausführungen mehr. (Automatisiert bedeutet in diesem Zusammenhang ein eingipfeliges Geschwindigkeitsniveau bei der senkrechten Bewegungsausführung.)

Größenanpassung von übereinandergeschriebenen Ovalen an vorgegebene Höhenvorgaben

Den 10 Erwachsenen gelingt die Größenanpassung an 6mm-Vorgaben im statistischen Mittel exakt, bei 12mm Vorgaben liegen die gezeichneten Ovale knapp unterhalb der Größenvorgabe. Sämtliche Ausführungen der Ovale entsprechen den Kriterien eines routinierten Schreibens. Die 14 Kinder erreichen bei einer Größenvorgabe von 6mm beim Nachzeichnen einen Mittelwert bei knapp 9mm (Vgl. ebd. S. 300; Schätzung des Verfassers aus einer Graphik, da keine genauen nummerischen Werte angegebenen sind.). 12 von 14 Kindern lagen hierbei noch im Toleranzbereich für automatisierte Bewegungen. Bei der Größenvorgabe von 12mm liegt die Überschreitung des Vorgabenwertes im Mittel bei ca. 14,2 mm (Vgl. ebd. S. 300; Schätzung des Verfassers aus einer Graphik, da keine genauen nummerischen Werte angeben sind.)

Kommentierte Ergebnisdarstellung

Aus der recht guten Beachtung von senkrechten Größenvorgaben (6 mm und 12 mm) bei 3 Sekunden andauerndem Übereinanderzeichnen von Ovalen folgern Quenzel/Mai (2000):

Kinder können ihre Schrift also vorgegebenen Maßen anpassen, auch wenn Begrenzungslinien nicht vorgegeben sind.” (zit. ebd. S. 300; Hervorhebung. durch d. Verfasser)

Kommentar: In der oben angeführten Zitatpassage kann eine weite Überziehung des eigentlich untersuchten Gegenstandsbereiches festgestellt werden, da ausschließlich die Befähigung zur Anpassung übereinandergeschriebener Ovale untersucht wurde und Alltagsschrift bekanntermaßen nicht aus übereinandergeschriebenen Buchstabenformen besteht. Die zweite Überziehung besteht darin, bei Schreibanfängern zu Beginn der ersten Klasse von „ihre Schrift” zu reden, die sich ja gerade erst entwickelt. Die dritte Überziehung besteht in der Formulierung „Kinder”. Angesichts der kleinen Anzahl von 14 an der Untersuchung beteiligten Kindern kann diese nicht als repräsentativ gelten kann und darf daher nicht derart undifferenziert verallgemeinert werden. Die Autoren Quenzel und Mai benutzen in einem Folgeartikel aus dem Jahr 2001 unter dem Titel „Welche Schreibmotorischen Kompetenzen besitzen Schulanfänger?” nur noch den Ausdruck „Kinder”, ohne die tatsächliche Anzahl von Untersuchungspersonen zu erwähnen.

„Auch die Argumentation der Verteidiger des Liniensystems, Linien seien eine notwendige Hilfe für Kinder, damit sie lernen, ihre Schrift an bestimmte Größen anzupassen (Bosch et al., 1981), wurde überprüft. Wenn nämlich neben verschieden langen Balken Ovale in Größe der Bahnen produziert werden sollen, können Erwachsene und auch bereits Kinder angemessen skalieren, und dabei schreiben Erwachsene und sogar die meisten Kinder automatisiert.” (Quenzel/Mai 2000: Hervorhebung. durch d. Verfasser)

Kommentar: Korrekt müßte es heißen, dass 14 Kinder in der Lage sind, über einen Zeitraum von 3 Sekunden Ovale übereinanderzuzeichnen und dabei nur vglw. geringe Größenabweichungen bezogen auf einen vorgegebenen Maßstab zu produzieren. Ein längeres Schreiben von Buchstaben, Silben oder Wörtern in weiterer Distanz zur Größenvorgabe wurde nicht untersucht, was aber die Voraussetzung dafür wäre, dass die inhaltliche Verknüpfung zu dem am Zitatanfang behaupteten Überprüfen der Sinnhaftigkeit/Notwendigkeit von Schreiblineaturen überhaupt hergestellt werden könnte. Auch wurden keine Schreibbewegungen in z.B. systematisch variierten Lineatursystemen untersucht. Diese Überziehung wird an anderer Stelle (link zum Kapitel „Lineaturen hinderlich (?): Mythos und Wirklichkeit”) von Mahrhofer-Bernt als argumentative Grundlage für die vermeintliche Problembehaftetheit von Lineaturen mythenbildend ausgeschlachtet.

„Dazu wurde untersucht, über welche Schreibkompetenzen Kinder bereits zu Beginn des Erstschreibunterrichtes verfügen und inwieweit sie diese im herkömmlichen Schreibunterricht einsetzen.” (Quenzel/Mai 2000: 301) (ebd. S. 302; Hervorhebung. durch d. Verfasser)

Kommentar: Schreibkompetenzen im weiteren Sinne wurden nicht untersucht, außer man definiert „Schreibkompetenz” verbindlich als das 3-sekündige bzw. maximal 10-sekündige Anfertigen von senkrechten Strichen und Ovalen und 10-sekündige Anfertigen von Doppel-l-Schleifen. Inwieweit die untersuchten 14 Kinder Grundbewegungen im Unterricht einsetzten, geht nicht aus dem Artikel hervor. Zur diesbezüglichen Klärung hätte es einen systematischen Vergleich mit den ersten Buchstabenformen und den ermittelten Leistungen benötigt. Etwas später im Text lösen die Autoren ihre inhaltliche Überziehung von Seite 301 auch selbst auf, wenn sie nun anführen, dass es vielleicht doch noch andere Schreibkompetenzen geben könnte:

„Die Ergebnisse der vorliegenden Studie legen es nahe, daß es lohnend wäre, nach weiteren Schreibkompetenzen von Kindern zu Beginn des Erstschreibunterrichtes zu suchen und diese beim Schreiben zu nutzen.” (ebd.: 302)

Auch bereits zeitlich früher überziehen Mai/Marquardt (1995b) die Aussagekraft der Diplomarbeit von Quenzel (1994) bereits erheblich, wenn sie schreiben:

„Die Vorgabe von Begrenzungslinien und die in der Schule übliche Instruktion, diese genau einzuhalten, behindern eindeutig die Ausführung automatisierter Schreibbewegungen. Dies belegt eine in unserer Arbeitsgruppe durchgeführte Untersuchung (Quenzel 1994), in der einfache Abstriche frei oder unter Vorgabe von Begrenzungslinien produziert werden sollten.” (Mai/Marquardt, 1995b: 29; Hervorhebung im Original)

Kommentar: Auch in dieser Interpration zeigt sich wieder eine deutliche Überziehung des Aussagegehaltes der Untersuchung von Quenzel, denn die unautomatisierte Ausführung zeigte sich in ihrer Untersuchung bei der extrem genau abgeforderten Platzierung von senkrechten Strichen zwischen zwei horizontale Begrenzungslinien. Diese Anforderung kann nicht auf alle möglichen Schreibbewegungen und weniger hohen Exatheitsanforderungen verallgemeinert werden.

Fazit

Die Studie von Irmina Quenzel ist hinsichtlich des Stichprobenumfang sicherlich als kleine Arbeit einzustufen. Im Kontrast zur unrepräsentativen Stichprobengröße, dem überschaubaren Untersuchungsdesign sowie der eher kurzen untersuchungspersonbezogenen Meßdauer findet sich eine erhebliche inhaltliche Überziehung bei der Interpretation der Untersuchungsergebnisse. Diese Überziehung kann als deutlicher Beleg für Wunschdenken und einen deutlichen Verlust wissenschaftlicher Bodenhaftung der Autoren angesehen werden. In Artikeln von Grundschriftbefürwortern wird dieses Studie gerne angeführt, auf deren die eingeschränkte Verallgemeinerbarkeit jedoch nicht hingewiesen. Sollten Ihnen also die Studienergebnisse von Quenzel zum Beispiel im Zusammenhang mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit oder Unsinnigkeit von Schreiblineaturen präsentiert werden, können Sie anhand der obigen Ausführungen nun die Aussagekraft und Verlässlichkeit dieses wissenschaftlichen Beleges besser einstufen.

Literatur:



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