Über die Vereinfachte Ausgangsschrift

Die Übernahme der Vereinfachten Ausgangsschrift (VA) ist ein interessantes Beispiel aus der jüngeren deutschen Bildungsgeschichte für eine unzureichend konzeptionell hinterfragte und unzureichend empirisch überprüfte bildungspolitische Entscheidung. Die Vereinfachte Ausgangsschrift wurde 1970 von Heinrich Grünewald konzipiert. Später wurde die VA vom damaligen »Arbeitskreis Grundschule« (dem Vorläufer des heutigen Grundschulverbandes e.V.) aufgegriffen, weiterentwickelt und 1980 als Schulausgangsschrift etabliert (vgl. Sammarro 2002: 6, Quenzel/Mai 2000: 291, Baurmann 2001: 208). Die von Grünewald ursprünglich vorgelegten Ergebnisberechnungen und Ergebnisdarstellungen, mit denen er Vorteile der VA „belegen” wollte, wurden durch die Kritik von Topsch (1996, 1998) widerlegt. Auch Richter (1998b) stellt fest, dass Grünewald nicht in der Lage ist, die aufgeführten Kritikpunkte zu entkräften. Eine ebenfalls von Richter (1998a) durchgeführte Nachuntersuchung verglich die Güte der Rechtschreibleistungen bei 956 Schülerinnen und Schülern der Klassenstufen 2, 3 und 4 im Landkreis Diepolz (Niedersachsen) und konnte eine Überlegenheit der VA gegenüber der Lateinischen Ausgangsschrift nicht nachweisen. Im Gegenteil fanden sich signifikant bessere Rechtschreibleistungen bei Schülern beiderlei Geschlechts der 2. Klasse und Schülerinnen der 4. Klasse, welche die Lateinische Ausgangsschrift erlernt hatten. Als Fazit kann Folgendes festgehalten werden:

  1. Grünewald hat durch inkonsistente Ergebnisdarstellungen und unzureichende empirische Berechnungen die vereinfachte Ausgangsschrift unberechtigterweise als überlegen dargestellt und dadurch dazu beigetragen, dass diese Eingang in den schulischen Schriftkanon gefunden hat.
  2. Der damalige »Arbeitskreis Grundschule« war anscheinend nicht in der Lage, das Konzept der VA einer kritischen Prüfung zu unterziehen und mit der betriebenen Weiterentwicklung der VA eine überlegene Ausgangsschrift zu entwerfen. Mittlerweile erlauben sich Bartnitzky/Hecker/Mahrhofer-Bernt (2011: 7) - wie auch immer Sie diese Erkenntnis herleiten mögen - in Veröffentlichungen der Nachfolgeorganisation »Grundschulverband e.V.« die Vereinfachte Ausgangsschrift (im Reigen anderer Schulausgangsschriften) als „überflüssig” und „schädlich” einzustufen. Dass hierdurch die Aktivitäten der Vorläuferorganisation »Arbeitskreis Grundschule« disqualifiziert werden und gleichzeitig die Lehrtätigkeit einer großen Anzahl von Grundschullehrern herabqualifiziert wird, scheinen die Autoren billigend in Kauf zu nehmen.
  3. Diverse Kultusministerien in Deutschland unterstützen die Verwendung der VA auch noch 18 Jahre nach der von Topsch (1996) veröffentlichten Falsifizierung der Untersuchungsergebnisse von Grünewald.

Dies wirft die Frage auf, wie es geschehen kann, dass bildungspolitisch eine Schulausgangsschrift unterstützt und etabliert werden kann, die nicht in der Lage ist, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen?

Es stellt sich weiterhin die Frage, inwieweit auf der Ebene der Kultusministerien eine angemessene wissenschaftliche Überprüfung geleistet wird oder eine begleitende Evaluation auf wissenschaftlich akzeptablem Niveau erfolgt bzw. finanziert wird? Versuche, wie z.B. wie in Bayern, der VA durch Lehrerschulungen und Handreichungen eine zusätzliche Untermauerung zu geben, erscheinen in ihrer Machart recht naiv und scheinen eher der Selbstberuhigung der Bildungsverantwortlichen als einer tatsächlich fundierten und nachvollziehbaren Bestandaufnahme an der Basis zu dienen. (Vgl. z.B. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (2006: 13-17). Es hat den Anschein, als ob die im Zusammenhang mit der Vereinfachten Ausgangschrift entstehenden Probleme ab Klasse 5 mit ansteigenden Schreibgeschwindigkeits-, Schreibmengen- und Lesbarkeitsanforderungen nur selten untersucht und systematisch abgebildet werden. (Vgl. als Ausnahme z.B. die Veröffentlichung von Schulze Brüning 2011. Zu den grundsätzlichen Problemen der Vereinfachten Ausgangsschrift verweise ich gerne auf ihre sehr informative Homepage (Link zur Homepage handschrift-schreibschrift.de von Frau Schulze Brüning).

Zum Dritten stellt sich die Frage, inwieweit getroffene bildungspolitische Fehlentscheidungen eingestanden und notwendigenfalls revidiert werden? Als aktuelles Beispiel sei die Zulassung der Schulausgangschrift (SAS) in Bayern ab dem Schuljahr 2014/15 neben der seit dem Schuljahr 2001/02 bisher vorgeschriebenen Vereinfachten Ausgangsschrift angeführt (vgl. hierzu: https://de.wikipedia.org/wiki/Ausgangsschrift). Oft entsteht der Eindruck, dass vor den selbstgeschaffenen „Sachzwängen” pädagogischer Modeströmungen, beschlossener Bildungspläne, verfügbarer Unterrichtsmaterialien und Ausbildungsinhalten angehender Grundschullehrerinnen/-lehrer irrational lange an fragwürdigen „Neuerungen” festgehalten wird. Als Beispiel sei angeführt, dass deutsche Bildungsministerien - von wenigen Ausnahmen abgesehen - seit circa 30 Jahren durch das Vorschreiben des Erlernens einer Druckschrift in Klasse 1 und den erst in Klasse 2 erfolgenden Übergang auf eine verbundene Schrift mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Verzögerungseffekt auf das Schreibenlernen erzeugen, der empirisch nachvollzogen werden kann (vgl. z.B. Morin et al. 2012: 114 sowie 121; Graham 2009: 21). Dass das Grundschriftkonzept dieses Dilemma auf eine befriedigende Art und Weise lösen könnte, muss aufgrund konzeptueller Schwächen als reines Wunschdenken erachtet werden.

Literatur:

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