Streben nach Ökonomisierung beim Schrifterwerb

1. Die motorische und graphische Ebene

Zunächst soll der immer wieder gerne angeführte “Kronzeuge“ der deutschen Grundschriftbefürworter - Professor Norbert Mai - zu Wort kommen (über dessen Beiträge informieren Sie sich bitte im Abschnitt Wissenschaftlich Zweifelhaftes unter »Absetzen nach 2-3 Buchstaben« und im Abschnitt Studien unter »Mai 1991«).

„Ein weiteres Hauptziel des Schreibunterrichts sollte die Optimierung der Bewegungsabläufe sein, um Geschwindigkeit und Ausdauer des Schreibens möglichst zu fördern. Eine Möglichkeit zur Optimierung der Bewegungsabläufe ist die Vereinfachung der Buchstaben. Die offensichtlichen Schnörkel und Umständlichkeiten der Lateinischen Ausgangsschrift bieten sich unmittelbar an und waren auch Ausgangspunkt für bisherige Vorschläge zur Modifikation der Schulschrift (Brügelmann, 1986). Was fehlt, ist eine empirische Entwicklung von Buchstabenformen, die auf eine Optimierung der Bewegungsabläufe ausgerichtet ist.” (Mai 1991: 15; Hervorhebung durch d. Verfasser)

Kommentar: In diesem Zitatabschnitt findet sich wiederum eine Mischung aus wertrationalen Zielvorgaben (Optimierung von Bewegungsabläufen, Förderung von Geschwindigkeit und Ausdauer), gefolgt von einem vorgeschlagenem Mittel in Form einer „Vereinfachung von Buchstaben“. Zum Schluss dann jedoch wieder der Hinweis auf das Fehlen einer belastbaren empirischen Basis für das dergestalt angestrebte Ziel. Dies bedeutet letztlich, dass Mai eingesteht, dass man sich noch weit weg von einer belastbaren Umsetzung des Oberziels befindet. Auch 4 Jahre später spricht er immer noch von „Anregungen”, jedoch finden sich bei ihm keine systematischen Untersuchungen mit belastbaren emprischen Daten oder schlüssige theoretische Modelle:

„Der systematische Vergleich der Schrift routinierter Schreiber mit der Schulschrift liefert zahlreiche Anregungen, wie der Bewegungsablauf beim Schreiben ökonomischer gestaltet werden kann.” (Mai 1995: 568; Hervorhebung durch d. Verfasser)

Mahrhofer (2004) positioniert sich in ihrer Konzeption des „LufT-Schreiblehrgangs“ und einer „LufT-Ausgangschrift“ (vgl. ebd. S. 191) wie folgt:

„Als zentrale Aussagen kann man hier die:

herausgreifen. Diese beiden Aspekte lassen sich ergänzen durch sich aus den Überlegungen der vorliegenden Arbeit ergebende Merkmale und Anforderungen, die an eine Schrift im LufT-Schreibtraining gestellt werden:

(zit. Mahrhofer, 2004: 190f.; kursive Hervorhebungen im Original)

Kommentar: Auch Mahrhofer spricht sich für eine Vereinfachung der zu schreibenden Buchstabenformen aus und postuliert als wünschenswert einen graphomotorisch leichten Übergang aus der vorausgehenden Druckschrift. Bei Mahrhofer treffen zwei hauptsächliche Ökonomisierungsaspekte zusammen. Diese wären: Die Verkürzung der Schreibspur durch druckschriftangelehnte Buchstaben und das Einsparen einer explizit verbundenen Schreibweise. Dazu tritt dann die Hoffnung auf eine kontinuierliche Weiterentwicklung zu einer teilverbundenen Schrift mit ausreichender Schreibgeschwindigkeit und guter Leserlichkeit.

Auch 2010 wiederholt Mahrhofer-Bernt diese Position, wenn sie schreibt:

„Buchstabenformen sollten systematisch vereinfacht und als Ausgangsformen bzw. Richtformen angeboten werden. Eine individuelle Abwandelung unter dem Prinzip der Formklarkeit und Formkonstanz ist möglich.” (Mahrhofer-Bernt, 2010, S. 32)

Kommentar: Die Forderung nach einer systematischen Vereinfachung der Formen auf Buchstabenebene wirft die Frage auf, entlang welcher Kriterien dieses Oberziel verwirklicht werden soll. Weiterhin stellt sich die Frage, ob die mit der Grundschrift einhergehende graphische Vereinfachung in Richtung auf ein Druckschriftalphabet möglicherweise zu Konflikten mit einer angemessenen Ausführung von Buchstabenverbindungen führen kann. Wie bereits im Kapitel »Bruchstellen in Theorie und Praxis« ausgeführt, ergibt sich für Schüler, die mit der schweizer Basisschrift sozialisiert werden häufig kein subjektives Bedürfnis zum Verbinden von Einzelbuchstaben, wie die folgenden Zitatstellen zum Ausdruck bringen:

„Es kommt häufig vor, dass Kinder zunächst mit den vorgeschlagenen Verbindungen wenig anfangen können und sie nicht ausführen, wenn sie nicht explizit verlangt werden.” (Hurschler Lichtsteiner / Jurt Betschart, 2011: 167)

„Die Verbindungen müssen also wirklich eingeführt und geübt werden, um die damit einhergehenden Planungsschritte zu automatisieren und nicht zu lange den Prozess der Verschriftlichung zu belasten.” (Hurschler Lichtsteiner/Jurt Betschart 2011: 171; Hervorhebungen durch den Verfasser).

Für Grundschüler aus Deutschland berichten Bode/Winzen Folgendes:

„Kinder, die während der gesamten Grundschulzeit in Druckschrift geschrieben haben, behalten offenbar auch in der Sekundarstufe überwiegend die Druckschrift bei, aus der sie, meistens schon in der Grundschulzeit, ihre Handschrift entwickeln. Einzelne Buchstaben werden eher wenig oder gar nicht sichtbar verbunden.” (Bode / Winzen, 2011: 157; Hervorhebung durch den Verfasser).

Über die Erfahrungen aus einem Erprobungsversuch der Grundschrift aus dem Jahr 2016 heisst es:

Die Verbindungen wurden jeweils mit viel Zeit und in ritualisierten Übungsphasen eingeführt. Die Kinder können sich nur bewußt für oder gegen die Buchstabenverbindung aussprechen, wenn sie sie auch selbst auzsprobiert haben. Deshalb ließen wir den Kindern zunächst nicht die Wahl sondern verpflichteten sie, die Buchstabenverbindungen zu üben und im Schriftgespräch zu überprüfen. In freien Schreibstunden durften sie dann selbstverständlich selbst entscheiden, welche verbindungen sie nutzen wollten und welche nicht.” (zit. n. Dietrich/Metz, 2016, S. 211f.; Hervorhebung im Original)

Sollte tatsächlich Schriften unter dem Aspekt einer Bewegungsoptimierung bzw. Optimierung der Buchstabengestalt analysiert werden, so sollte hierbei möglichst auf verlässliche Konstanten zurückgegriffen werden. Eine derartige Konstante wurde von Laquaniti / Terzuolo / Viviani (1983) formuliert, die zeigten, dass die Geschwindigkeit der Bewegungsausführung bei Schreib- und Zeichenbewegungen ausschließlich vom Grad der Kurvenneigung im Ausführungsmoment bestimmt wird. Die Autoren sprechen im Titel ihres Artikels immerhin von einem »Gesetz«, durch das Bewegungsgeschwindigkeit und graphische Gestalt miteinander verknüpft sind. Auch müsste das Modell von Lacquaniti / Terzuolo / Viviani (1983) es vermutlich erlauben, Schriftarten auf der Ebene ihrer räumlichen Kurvatur und dadurch potentiell realisierbarer Schreibgeschwindigkeiten miteinander zu vergleichen.


2. Ökonomisierung als Motiv von Lehrkräften

2.1 Das Ökonomisierungsmotiv bei Bartnitzky

Horst Bartnitzky ist einer der Hauptakteure im Kreis der Grundschriftbefürworter, der in vielen seiner Veröffentlichungen (Bartnitzky 2007; Bartnitzky, 2010a: 5; Bartnitzky 2010b: 3) die Abschaffung von verbundenen Ausgangsschriften fordert. Er stellt besondere ökonomische Erwartungen an den Schrifterwerb:

„Angesichts erheblich gestiegener Aufgaben der Schule spricht vieles dafür, wo es möglich ist, Lernprozesse ökonomischer zu gestalten. Schrift ist eine Kulturtechnik und hat vor allem funktionalen Wert. Sie sollte deshalb so zeitökonomisch wie möglich erarbeitet werden.” (Bartnitzky 2005: 7; Hervorhebung durch den Verfasser).

Kommentar: In diesem Ausschnitt spricht Bartnitzky, der damals zeitparallel noch Vorsitzender des Grundschulverbandes e.V. war, als Lobbyist für seine Lehrerklientel. Es sei darauf hingewiesen, dass die drei zitierten Sätze inhaltlich kaum miteinander verknüpft sind und sinngemäß ungefähr die folgenden Gedankenverlauf wiedergeben: »Weil mich an Schrift als Kulturtechnik vorrangig ihr funktionaler Wert (z.B. schnell und leserlich schreiben können) interessiert, soll meiner Meinung nach der Schrifterwerb so schnell wie möglich und mit möglichst geringem Aufwand erarbeitet werden. Außerdem ist eine möglichst schnelle und mit geringem Aufwand verbundene Erarbeitung auch hilfreich, da die Lehrpläne so vollgestopft sind«. Bitte vergegenwärtigen Sie sich als Leser, dass eine derart plumpe Denkweise, wie Bartnitzky sie hier vertritt, eine völlig eindimensionale Auffassung des Gegenstandsbereiches Schreibenlernen/Schriftvermittlung aus Lehrerperspektive darstellt. Bartnitzky scheint anzunehmen, dass die nachhaltige Stabilisierung motorischer Ausführungsprogramme und die Ausbildung neuronaler Verknüpfungen zwischen bislang so nicht verbundenen Fertigkeitsbereichen bei Schreibanfängern sich seinem zeitökonomischen Desiderat wohl problemlos unterordnen werden. Die rein pragmatische Argumentation von Bartnitzky wird dadurch weder der Komplexität des Gegenstandsbereichs - und damit den schreibenlernenden Kindern - gerecht noch der bildungspolitischen Verantwortungsdimension eines selbsternannten „Schulschriftreformers” mit dem festen Willen zur Abschaffung verbundener Schulausgangsschriften. Die Aufrechterhaltung einer derart reduzierten Denkansatzes ist daher mit höchster Wahrscheinlichkeit dafür anfällig, durch die Nichtbeachtung von Wechselwirkungen, Nebenfolgen und Eingangsvoraussetzungen erheblichen Flurschaden anzurichten. Eine derartige Denkweise als ausreichende Grundlage für bildungspolitische Entscheidungen anzusehen, muss als politisch fahrlässig angesehen werden.

2.2 Das Ökonomisierungsmotiv bei Lehrkräften: Erste Erfahrungen aus der Schweiz

Letztlich ist ebenfalls anzunehmen, dass auch Lehrkräfte auf eine Entlastung des Schreiblernprozesses hoffen oder sich von darauf abzielenden vollmundigen Versprechen begeistern lassen. Hierzu für die Situation in der Schweiz Hurschler Lichtsteiner et al. (2008):

„Die Befürworter/innen der neuen Schrift betonen erfreut die logische Umsetzung einer gesellschaftlichen Entwicklung und die Hinwendung zu wirklich sinnvollem, kindgerechtem Schriftunterricht. Was an der verbundenen Schrift auf bemängelt wurde (z. B. schwierige Deckstriche oder die Verspannung fördernde Verbundenheit) scheint nun einer längst fälligen Reform unterzogen. Das Auslassen des “Weges“ über die verbundene Schrift verspricht eine willkommene Zeitersparnis - und hier setzen auch die meisten Kritiken ein: Schreibenlernen ist in erster Linie Bewegungslernen, und alle Praktiker/innen von hochspezifischen Bewegungen (Musiker/innen, Leistungssportler/innen) können bestätigen: Es braucht dazu ein regelmäßiges, zielorientiertes Training mit ziemlich verbindlichen Vorgaben. Eine Reduktion des zeitlichen Aufwandes für den Schriftunterricht, eventuell noch kombiniert mit einer zu großzügigen Führung, könnte also mehr Schriftprobleme generieren als lösen, da das Kind gar nie einen genügend hohen Automatisierungsgrad erreicht.” (Hurschler Lichtsteiner et al. 2008: 9; Hervorhebung durch d. Verfasser)

Kommentar: Es scheint wohl im Rahmen der Erforschung der schweizer Basisschrift im Jahr 2008 eine skeptischere und weniger optimistische Grundhaltung auf wissenschaftlicher Seite vorgelegen zu haben. Dass diese Skepsis inhaltlich angebracht und berechtigt war verdeutlicht das nun folgende Zitat aus dem Jahr 2011:

„Auf der Stufe der 3. Klasse hingegen stellte sich heraus, dass die Entwicklung der teilweise verbundenen Schrift [gemeint ist hier die der Grundschrift ähnliche Schweizer Basisschrift] didaktisch anspruchsvoll ist, weil man sich nicht mehr auf eine Richtig-falsch-Vorlage stützen kann, sondern die Kinder in einem Prozess begleiten muss. Hier wurde auch das Fehlen eines befriedigenden Lehrmittels bemängelt und allgemein festgestellt, dass die Kinder trotzdem noch der Übung und Unterweisung bedürfen (Vielleicht hatten da die ersten Beschreibungen zu große Erwartungen geweckt?). Die Verbindungen müssen also wirklich eingeführt und geübt werden, um die damit einhergehenden Planungsschritte zu automatisieren und nicht zu lange den Prozess der Verschriftlichung zu belasten. Weil sich das Bild des Wortes als verbundene Ganzheit nicht mehr von selber ergibt, muss zudem dem Aufbau eines Raumgefühls für die Abstände zwischen den Buchstaben und zwischen den Wörtern vermehrt Rechnung getragen werden.” (Hurschler Lichtsteiner/Jurt Betschart 2011: 171; Anmerkungen in eckigen Klammern und Hervorhebungen durch den Verfasser)

Kommentar: Die Erfahrungen aus der Schweiz sprechen also für eine zeitliche Verlängerung und eine Verlagerung der inhaltlichen Schwerpunkte des Erwerbs des (teil-)verbundenen Schreibens bis in die höheren Klassen der Grundschulstufe. Ob angesichts dieser Erfahrungen von einer tatsächlichen Arbeitsersparnis durch den Verzicht auf eine verbundene Ausgangsschrift ausgegangen werden kann, erscheint somit fraglich.

Literatur:

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