Die Studie von Norbert Mai 1991

Weil Norbert Mai (Im Jahr 1991 am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München tätig, später Professor für Neuropsychologie an der LMU München im Klinikum Großhadern mit den Schwerpunkten Sensomotorik und Trainingsverfahren bei feinmotorischen Störungen.) mit seinen theoretischen Überlegungen zur Veränderung der Schulausgangsschrift von Grundschriftbefürwortern immer wieder angeführt wird, folgt nun eine Darstellung seiner Untersuchung von 1991.

Titel und Veröffentlichungsort

Mai Norbert, 1991, Warum wird Kindern das Schreiben schwer gemacht? Zur Analyse von Schreibbewegungen. In: Psychologische Rundschau, 42, 12-18

Untersuchungsdesign/Methoden

„Untersucht wurden 11 Erwachsene (Institutsmitglieder im Alter von 22-54 Jahren) und ein Kind im 4. Schuljahr (10 Jahre). Die Versuchspersonen sollten in ihrem „normalen” Schreibtempo vorgegebene Buchstaben wiederholt kopieren. Pro Durchgang standen 5 s zur Verfügung. Die Größe der Buchstaben war innerhalb eines Schreibfeldes (2,0 • 11,5 cm) frei wählbar. Ausgewertet wurden die zum Schreiben benötigten Zeiten.” (zit. ebd. S.15). Untersucht wurden die Zeitdifferenzen zwischen den in Lateinischer Ausgangschrift ausgeführten Großbuchstaben K, L, G, H, A, M und den entsprechenden Großbuchstaben in Druckschrift. Weiterhin wurden Zeitdifferenzen beim Schreiben der Buchstabenpaare le, au, ei, ch, nd, lo, ig, la, ec untersucht, die in verbundener Schreibschrift und unverbundener Druckschrift jeweils als Kleinbuchstaben ausgeführt wurden. Zur methodischen Umsetzung kam ein von Mai und Marquardt entwickeltes computergestütztes Analysegerät zur Anwendung, mit dem die Schriftzüge aufgezeichnet und Faktoren wie Schreibgeschwindigkeit, Schreibdruck und Geschwindigkeitswechsel beim Schreiben registriert werden konnten.

Ergebnisse

Es fanden sich laut Mai für die Schreibung der obigen Auswahl von Großbuchstaben durchgehend signifikante Zeitvorteile im intraindividuellen Vergleich für das Schreiben in Druckschrift gegenüber den in Schreibschrift gehaltenen Großbuchstaben. Bei den Kleinbuchstaben wurden die Kombinationen nd, lo, ig, la, ec unverbunden schneller geschrieben. Die Kombinationen le, au, ei, ch konnten verbunden schneller geschrieben werden. Mai fasst wie folgt zusammen:

„Trotz der Variation [gemeint sind starke intraindividuelle Unterschiede in den Schreibgeschwindigkeiten Anmerkung des Verfassers] zwischen den Personen waren alle Zeitdifferenzen auch statistisch signifikant (t-test für abhängige Stichproben). überprüft wurde nur eine kleine Zahl von Buchstaben, die vereinfachten Buchstaben wurden zudem nicht experimentell variiert. Aber schon die vorliegenden Daten zeigen, daß eine an der Ökonomie der Bewegungen orientierte Schrift deutlich von der geltenden Schulvorlage abweichen würde.” (ebd. S. 17)

Kritische Bewertung der Untersuchungsergebnisse:

  1. Faktisch ist die oben dargestellte kleine Untersuchung der einzige originäre empirische Beitrag von Mai, der sich mit nichterkrankten Personen und deren Schreibgeschwindigkeiten systematischer beschäftigt. Ansonsten tritt Mai nur als Koautor in Erscheinung (Z.B. im Artikel »Kinematische Analyse von Schreibbewegungen im Erstschreibunterricht« (Quenzel/Mai, 2000), in dem hauptsächlich die Ergebnisse der Diplomarbeit von Quenzel (1994) zusammenfassend dargestellt werden.)
  2. Die Gesamtzahl der untersuchten Personen ist mit 12 bedauerlich gering, nicht repräsentativ und daher auch nicht verallgemeinerbar.
  3. Die Beschränkung der Untersuchung von Mai auf Schreibzeitdifferenzen bei maximal zwei in unmittelbarer Folge zu schreibenden Buchstaben lässt einen Übertrag auf eine reale Schreibsituation nicht zu. Nützlicher wäre die Ausführung längerer Buchstabenkombinationen/Wörter, um etwas realistischer den Schreibfluss bzw. eine etwas längere Schreibsequenz vergleichen zu können. Auch sind die Buchstabenkombinationen nicht systematisch nach besonders hoher Auftretenshäufigkeit in der deutschen Sprache ausgewählt.
  4. Warum Mai in seiner Untersuchung neben den 11 Erwachsenen Schreibern auch noch ein Kind (4. Klasse) mit einbezieht verbleibt unklar, denn es ist nun nicht möglich, die angegebenen Werte als Aussage über eine gewisse Kompetenz- oder Altersstichprobe Erwachsener zu werten. Da Mai keine Angaben zur Streuung macht, lassen sich keine Einschätzungen zum Beispiel zur Homogenität/Inhomogenität der aufgetretenen Mittelwertsunterschiede ableiten.
  5. Mai schreibt jedoch exemplarisch zu den Zeitdifferenzen beim Buchstaben K (in Druck- und Schreibschrift): „Die Zeitdifferenzen zwischen beiden Buchstabenformen variierten erheblich zwischen 150 und 1450 ms, in jedem Fall wurde aber das vereinfachte „K” schneller geschrieben.” (Mai 1991: 16). Somit fanden sich in der Untersuchung für den Buchstaben K Schreibzeitdifferenzen zwischen verschiedenen Schreibern, die nahezu um den Faktor 10 differierten, was als beträchtlich angesehen werden muss und einer näheren Erklärung bedürfte.
  6. Es liegen von Mai keine weiteren Veröffentlichungen mit einer größeren Anzahl von Kindern vor. Das in der Untersuchung erwähnte 10-jährige Kind ist also das einzige, das von Mai in einer publizierten Untersuchung Berücksichtigung fand.

Wie sich Norbert Mai selbst zitiert

Interessant ist es nun, wie Mai sich im Jahr 2001 - also 10 Jahre nach der Veröffentlichung der oben dargestellten Studie - selbst zitiert. Es handelt sich bei diesem Artikel um eine nochmalige mit Zusammenfassung der Ergebnisse Studien von Mai 1991 und Quenzel 1994. Die Genannten treten als Koautoren auf. Im folgenden Abschnitt äußern sich Quenzel/Mai (2001) über das Schreibcharakteristiken routinierter Schreiber:

„Zum Beispiel werden die Buchstaben „c” und „h” häufig, dagegen „i” und „g” praktisch nie miteinander verbunden (vgl. Mai, 1991).” (Quenzel/Mai 2001:35)

Kommentar: Quenzel/Mai tätigen hier eine Aussage über Verbindungshäufigkeiten Häufigkeitsaussage, deren Gültigkeit nahezu den Rang einer Gesetzesaussage („praktisch nie”) beansprucht. Sie beenden die Aussage mit einem Literaturverweis auf Mai 1991, wobei in dieser Untersuchung keinerlei Erhebungen über Häufigkeitsaussagen getätigt wurden. Der Literaturverweis geht also inhaltlich ins Leere, täuscht aber eine systematische Untersuchung zu Auftretenshäufigkeiten von Buchstabenverbindungen vor.

„Die umständlichen Buchstaben der Lateinischen Ausgangsschrift benötigen erheblich mehr Schreibzeit als die vereinfachten Schriftzeichen, die routinierte Schreiber (s. Abb. 1) in der Regel einsetzen (vgl. Mai 1991).”

Kommentar: Nun treffen Quenzel/Mai eine Aussage über Geschwindigkeitsunterschiede zwischen „umständlichen Buchstaben der lateinischer Ausgangsschrift” und vereinfacht-routinierter Schreibung und fügen den Artikel von Mai 1991 als Literaturbeleg an. In der Untersuchung von Mai (1991) wird zwar durchaus die Schreibung in der lateinischen Ausgangsschrift gegenüber vereinfachten Druckbuchstaben hinsichtlich der Schreibdauer untersucht, aber es handelt sich hierbei nur um 16 Buchstaben des Alphabets für die Mai 1991 selbst noch zu folgendem Schluss kommt: „(...) überprüft wurde nur eine kleine Zahl von Buchstaben, die vereinfachten Buchstaben wurden zudem nicht experimentell variiert.” (zit n. Mai 1991: 16). Nun bringen Quenzel/Mai (2001) nicht gänzlich klar zum Ausdruck, ob es vielleicht auch „nicht-umständliche Buchstaben” der lateinischen Ausgangsschrift geben könnte. Da die Aussage selbst aber keinerlei Einschränkungen enthält, muss diese am ehesten als generalisierende Aussage verstanden werden und überzieht dadurch weit die Aussagekraft der Ergebnisse von 1991. Gleichzeitig unterschlagen Quenzel/Mai (2001) mit ihrer Aussage, dass in der Untersuchung von Mai (1991) zumindest manche Buchstabenkombinationen verbunden schneller geschrieben werden konnten als unverbunden, wobei aus der Ergebnisdarstellung von 1991 nicht hervorgeht, wie weit angelehnt an die Lateinische Ausgangsschrift die verbunden geschriebenen Buchstabenkombinationen bei den Untersuchungspersonen ausfielen. Es lassen sich demnach mehrere Hinweise dafür finden, dass Mai nach 10 Jahren nicht mehr in der Lage ist, seine eigenen Untersuchungsergebnisse angemessen differenziert, objektiv und unbeeinflußt von persönlichen Wunschvorstellungen (z.B. in Form von unzulässigen Übergeneralisierungen) darzustellen.

„Zur Optimierung der Bewegungsökonomie sollten nicht nur die Buchstabenformen, sondern auch die Anbindung von Buchstaben neu entwickelt werden. Manche Buchstabenkombinationen werden aneinanderhängend schneller geschrieben als getrennt, für andere Kombinationen wiederum erweist sich eine getrennte Schreibweise als günstiger (vgl. Mai 1991).”

Kommentar: Hier nun finden wir eine zunächst inhaltlich treffende Darstellung der Untersuchungsergebnisse, auch wenn an dieser Stelle nicht angeführt wird, dass es keine systematischen Untersuchungen darüber gibt, welche Buchstabenkombinationen denn nun von routinierten Schreibern bevorzugt getrennt oder zusammengeschrieben werden, da ja nur hieraus entsprechende Trainingsprogramme für Erstschreiber abgeleitet werden könnten. Die Unspezifität der Zitataussage spiegelt daher den geringen Grad der Repräsentativität wider, den die Untersuchung von Mai (1991) im Hinblick auf die Stichprobengröße und die Repräsentativität für den Vorgang des Schreibens hat. Die Aussage unterschlägt auch, dass es keine systematischen Untersuchungen routinierter Schreiber mit unterschiedlichen Erstschriften oder mehr oder weniger beibehaltenen Charakteristika ihrer Ausgangsschriften gibt, die zumindest einen Einblick in die Variantenreichtum routinierten Schreibens geben würden. Wenn Mai sich tatsächlich über seine Studie hinaus dafür engagiert hätte, systematisierte Datensammlungen über routinierte Schreiber zusammenzutragen, hätte er in den 10 Jahren, die zwischen den beiden Veröffentlichungen liegen, möglicherweise wirklich substantiell Bedeutsames zum Verständnis der Bewegungsökonomie bestehender Schreibvarianten beitragen können. So erhärtet sich der Eindruck, dass Mai, der kaum über den Tellerrand seiner Rehabilitationsforschung hinausgeschaut hat, nicht in der Lage ist, den beschränkten Geltungsbereich seiner Untersuchung bei seinen theoretischen Überlegungen auf wissenschaftlich redliche Art und Weise wiederzugeben. Statt dessen finden sich unter seiner Koautorenschaft (Quenzel/Mai 2000; Quenzel/Mai 2001) auffällig viele unzulässige Übergeneralisierungen (vgl. auch hierzu die kommentierenden Ausführungen über die Studie von Quenzel.


Hier werden Sie innerhalb der Homepage zur Beschreibung der Studie von Irmina Quenzel weitergeleitet.).

Fazit

Wenn Sie also in Veröffentlichungen der Grundschriftbefürworter im inhaltlichen Zusammenhang mit Studienergebnissen auf den Autor Mai verwiesen wird, haben Sie bitte immer im Hinterkopf, dass der von ihm veröffentlichte empirische Beitrag zur Schreibforschung (unter Absehung seiner Veröffentlichungen im Bereich der Rehabilitationsforschung) in der Untersuchung der Schreibgeschwindigkeit von 16 Buchstaben (A,a,c,d,e,G,g,H,i,K,L,l,M,n,o,u) an 11 nichterkrankten Erwachsenen und einem gesunden 10-jährigen Kind unter Verwendung von zwei unterschiedlichen Schriftstilen besteht.

Literatur:

© 2015 Götz Taubert, D-87700 Memmingen. Jede Art der Vervielfältigung, der Wiedergabe in Medien oder öffentlichen Lesungen, auszugsweise oder im Ganzen nur mit Genehmigung des Autors. Alle Rechte vorbehalten!